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Freitag, 23. Mai 2014

FUNKTIONIEREN - vom Über-leben zum Leben

Heute vormittag denke ich wieder besonders an Irmgard. Sie hat einen Zahnarzt-Termin, wer hat das schon gern. Wurzelbehandlung. Aber bei jemand, dem man monatelang im Mund und rund um den Mund herummanipuliert und behandelt hat - Zungengrundkrebs - bei dem löst das doch mehr als nur das "gewöhnliche" Unbehagen vor dem Zahnarzt aus. Irmgard aber "funktioniert" klaglos ...sie macht,was sie machen muss ... so wie sie sich das ungeliebte Baugerüst vor ihrem Fenster einfach
"verschönert" hat ...

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"Funktionieren.  Ja ich habe immer funktioniert, und ich habe gut funktioniert, aus meiner Sicht und auch aus der Sicht meiner FreundInnen und Bekannten. Passiert aber einmal etwas Unvorhergesehenes, etwas Schicksalhaftes, wird dieses ‚Funktionsgerüst‘ wackeliger und kann sogar vorübergehend zusammenbrechen. Und je enger sich die Schlinge um den Hals zieht, umso mehr greift Abhängigkeit von anderen Personen, von medizinischen Einrichtungen, von Hilfsmitteln aller Art Platz; eine Situation, mit der ein bis dahin äußerst selbständiger Mensch schwer zurechtkommt. Nur Ängste und Schmerzen und die schwindenden Kräfte ‚erleichtern‘ dann  das Begreifen der neuen Situation und das Zulassen (müssen).
Sind verschiedene Körperfunktionen reduziert oder gar ausgeschaltet, funktioniert ja der ganze dazugehörige Mensch nicht mehr. Die Zeit in der Intensivstation, die Zeit mit der Magensonde durch die Nase in den Magen, die Zeit der Sprachlosigkeit, die Zeit, bis sich Muskeln und  Kreislauf wieder ihrer Aufgabe voll bewusst sind – eine Zeit, in der man schwach und hilflos ist und sich nutzlos vorkommt; denn der Geist ist im Gegensatz zum Körper gesund und wach geblieben.


Zum Glück ging diese Hilflosigkeit nie so weit, dass ich nicht wenigstens die tägliche – wenn auch eingeschränkte – Körperpflege und den Gang auf die Toilette ohne fremde Hilfe geschafft hätte. Dass dennoch einmal dieser Fall eintreten könnte, davor bewahre mich Gott. Und die Gedanken an ‚diesen Fall‘  kreisen seit langem durch meinen Kopf, nicht erst, als ich bereits nahe dran war. Nicht so sehr die Gedanken daran, dass das gleiche, was eben mit mir passiert ist, noch einmal kommen könnte, nein, die Gedanken daran, was habe ich – mittlerweile altersbedingt – noch zu erwarten, ja zu befürchten. Wie lange werde ich meinen ganz normalen Alltag selbständig bewältigen können, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen hat das Schicksal noch für mich vorgesehen – Gedanken, die sich unweigerlich in den Vordergrund drängen, z.B. dann, wenn es an einer Stelle zwickt und zwackt, die bisher verschont geblieben war. Doch die Tatsache, dass ich ‚hier‘ lebe mit den besten sozialen Einrichtungen, die man sich nur vorstellen kann, beruhigt dann wieder."