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Samstag, 7. November 2015

ohne SYRIEN - kein ABENDLAND, kein Christentum



«Syrien heisst nicht Flüchtling. 
Es heißt Zivilisation.» 
Hochzeit eines syrischen Paares in einem Flüchtlingslager in Libanon:
(Bild: ESPEN RASMUSSEN / PANOS)
ARTIKEL Rudolph Jula    http://www.nzz.ch/fluechtlingskrise-ich-bin-ein-syrer-ld.2907

Eine Freundin schickt mir den link zu einem Artikel in der NZZ, der Neuen Zürcher Zeitung .
Abgesehen von den Mitmenschen, die all den flüchtenden und Sicherheit suchenden Menschen
in diesen Tagen und Wochen überhaupt ablehnend, ängstlich oder gehässig gegenüberstehen -
es ist für uns alle gut, die Relationen zu sehen. Da kommen nicht "Armutschgerln" , die
unsere ZIvilisation bedrohen - da kommen Menschen aus einem Land, einer Region,
in der Kultur und Zivilisation begonnen hat. Lange lange vor unseren Landstrichen.
Da saßen wir - sozusagen - noch auf den Bäumen ......
hier Auszüge aus dem lesenswerten Artikel


„ ….als 2011 die Aufstände in Syrien begannen rückte SYRIEN schlagartig in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Zerstörung und Gewalt prägten die Vorstellung, Syrien als Synonym für Krieg. Daran hat sich nichts geändert; nur kommen seit diesem Jahr, sozusagen als dritter Akt, die Bilder syrischer Flüchtlinge dazu, die zu uns strömen.

Nun sind die Menschen, die man zuvor nur in den Nachrichten sah, plötzlich in Europa, auf der falschen Seite des Bildschirms sozusagen, die Barbarengrenze ist gebrochen, das Chaos hier, mitten unter uns. Das macht Angst. «Sie kommen ja aus einem ganz anderen Kulturkreis», meinte eine Leserbriefschreiberin besorgt. …. Fasst man das kollektive Narrativ der jüngeren Vergangenheit zusammen, war der Kulturkreis, aus dem die Syrer kommen, irgendeine Diktatur in irgendeinem Wüstenstaat, der sich in eine Trümmerwüste verwandelt hat.


Vielleicht ist es den Sympathisanten der Pegida nicht klar, aber ohne Syrien hätte es das Abendland nie gegeben.


Bei der Karte von Syrien muss man sich die Grenzen wegdenken, damit eine Vorstellung entsteht. Die Grenzen wurden von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs kreuz und quer durch jenen zusammenhängenden Kulturraum gezogen, den man seit der Antike Syrien nannte. Der heutige Staat gleichen Namens, aus dem französischen Mandatsgebiet hervorgegangen, ist nur ein Teil davon.

Wenn jemand bis 1918 von Syrien sprach, meinte er damit ein Land, dessen Küste sich am Mittelmeer von Alexandrette (heute Iskenderun, Südtürkei) bis nach Haifa erstreckte, im Süden von der arabischen, im Osten von der syrischen Wüste und dem Euphrat begrenzt, im Norden von den Bergen der Tauruskette.

Dieses Gebiet wurde von Assyrern, Persern, Griechen, Römern und Byzantinern beherrscht, bevor die Araber es einnahmen und Damaskus zu ihrer Hauptstadt machten. ..Syrien ist ein Gebiet, das aus vielen Kulturschichtungen besteht, ein hochverdichteter Zivilisationsraum, den man, auf Europa übertragen, nur mit Italien vergleichen kann. Syrisch heißt nicht Flüchtling, es heißt Zivilisation. 


Auch der Apostel Paulus war aus Syrien

 

Zu diesem Zivilisationsraum gehörten nicht nur Araber oder Muslime, sondern auch Christen und Juden. Einen modernen Toleranzbegriff auf die Vergangenheit zu projizieren, ergibt keinen Sinn. Man könnte sagen: Man hat zusammengelebt und sich arrangiert. Bis zur Gründung des Staates Israel gab es in jeder syrischen Stadt jüdische Gemeinden, bis zum Beginn des Syrien-Konflikts 2011 gab es in Aleppo und Damaskus christliche Viertel, die so groß wie Stadtteile waren.

Auch wenn die Region vorwiegend islamisch wurde, gehört zum syrischen Zivilisationsraum nicht nur der Halbmond, sondern auch das Kreuz.

Statistisch gesehen, ist jeder zehnte Syrer ein Christ. Ohne Syrien ist das Abendland nicht denkbar


Hätte der spätere Apostel Paulus (als Saulus und Christenverfolger) nicht sein Bekehrungserlebnis in Damaskus gehabt – an der biblisch erwähnten «Geraden Strasse», die es heute noch gibt und die immer noch denselben Namen trägt –, wäre er nicht aufgebrochen, um den Grundstein für eine neue Weltreligion zu legen.  
In Antiochia, bis 1939 eine syrische Stadt, wurden die Jünger «zum ersten Mal Christen genannt». Syrische Christen sind die Letzten, die die Sprache Jesu, Aramäisch, noch verstehen. Sie war die Hochsprache des Nahen Ostens, vor Griechisch und Latein. Syrisch heißt: mit unserer Zivilisation verwandt. 


Auf der Karte sieht man zwei große Städte, Aleppo und Damaskus, eine Dualität. Handelsstadt, heilige Stadt, ein wenig wie Florenz und Rom, nur weniger museal. Sie gelten als die beiden ältesten Städte der Welt. Damaskus existierte schon, als Abraham noch auf der Wanderung war. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebte in diesen Städten, die zu modernen Metropolen wurden, ohne Tradition und Identität zu verlieren. Syrien bedeutet also nicht Dorf, sondern Urbanität – die Idee von Stadt ist dort geboren. Und schaut man auf die Küstenlinie, die ohne Grenzen sehr lange wäre, sieht man eine Reihe von Städten, die sich zum Mittelmeer hin öffnen, seit den Phöniziern durch Handel vernetzt, verbunden mit der Welt. Dann wird aus Syrien die Levante. Syrisch, levantinisch, das hat einen richtigen Klang. 


Von religiös motivierten Spannungen war im modernen Syrien nicht viel zu spüren, und das war nicht nur Anordnung der Diktatur, es entsprach einfach der Mentalität. Vor allem für junge Syrer war das Zusammenleben normaler Teil des Alltags. Christen und Muslimen war die Religion wichtig, aber kein Grund, nicht zusammen im Café zu sitzen oder Basketball zu spielen. Und ihre Gruppe war repräsentativ.

Syrien ist zwar eine sehr alte Zivilisation, aber mit einem sehr jungen Gesicht. Durchschnittsalter ist 20, das ist schwer vorstellbar im Haus Europa, das immer mehr zum Altersheim wird, wo man sich vor diesen jungen Männern fürchtet, die so voller Aggressionen sind. Man muss andere Wörter damit verbinden, damit es syrisch wird: Energie, Neugier, Lebensfreude und den jugendlichen Mut, ohne Fahrradhelm durch den Tag zu gehen.  
Der Tradition verpflichtet, der Welt zugewandt, überdurchschnittlich oft urban und jung, das sind Merkmale syrischer Identität.

Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Menschen, die den IS gesehen haben, hier bei uns einen Gottesstaat errichten wollen." ......


Rudolph Jula ist Reiseschriftsteller und Filmemacher. Sein nächstes Buch, «Die syrische Grenze», erscheint 2016 im Salis-Verlag, Zürich.
 http://www.nzz.ch/fluechtlingskrise-ich-bin-ein-syrer-ld.2907