«Syrien heisst nicht Flüchtling.
Es heißt
Zivilisation.»
Hochzeit eines syrischen Paares in einem Flüchtlingslager
in Libanon:
(Bild: ESPEN RASMUSSEN / PANOS)
ARTIKEL Rudolph Jula http://www.nzz.ch/fluechtlingskrise-ich-bin-ein-syrer-ld.2907
Eine Freundin schickt mir den link zu einem Artikel in der NZZ, der Neuen Zürcher Zeitung .
Abgesehen von den Mitmenschen, die all den flüchtenden und Sicherheit suchenden Menschen
in diesen Tagen und Wochen überhaupt ablehnend, ängstlich oder gehässig gegenüberstehen -
es ist für uns alle gut, die Relationen zu sehen. Da kommen nicht "Armutschgerln" , die
unsere ZIvilisation bedrohen - da kommen Menschen aus einem Land, einer Region,
in der Kultur und Zivilisation begonnen hat. Lange lange vor unseren Landstrichen.
Da saßen wir - sozusagen - noch auf den Bäumen ......
hier Auszüge aus dem lesenswerten Artikel
„ ….als 2011 die Aufstände in Syrien begannen rückte
SYRIEN schlagartig in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Zerstörung und Gewalt
prägten die Vorstellung, Syrien als Synonym für Krieg. Daran hat sich nichts
geändert; nur kommen seit diesem Jahr, sozusagen als dritter Akt, die Bilder
syrischer Flüchtlinge dazu, die zu uns strömen.
Nun sind die Menschen, die man zuvor nur in den
Nachrichten sah, plötzlich in Europa, auf der falschen Seite des Bildschirms
sozusagen, die Barbarengrenze ist gebrochen, das Chaos hier, mitten unter uns.
Das macht Angst. «Sie kommen ja aus einem ganz anderen Kulturkreis», meinte
eine Leserbriefschreiberin besorgt. …. Fasst man das kollektive Narrativ der
jüngeren Vergangenheit zusammen, war der Kulturkreis, aus dem die Syrer kommen,
irgendeine Diktatur in irgendeinem Wüstenstaat, der sich in eine Trümmerwüste
verwandelt hat.
Vielleicht ist es den Sympathisanten der Pegida nicht klar, aber ohne
Syrien hätte es das Abendland nie gegeben.
Bei der Karte von Syrien muss man sich die Grenzen
wegdenken, damit eine Vorstellung entsteht. Die Grenzen wurden von den
Siegermächten des Ersten Weltkriegs kreuz und quer durch jenen
zusammenhängenden Kulturraum gezogen, den man seit der Antike Syrien nannte.
Der heutige Staat gleichen Namens, aus dem französischen Mandatsgebiet
hervorgegangen, ist nur ein Teil davon.
Wenn jemand bis 1918 von Syrien sprach, meinte er
damit ein Land, dessen Küste sich am Mittelmeer von Alexandrette (heute
Iskenderun, Südtürkei) bis nach Haifa erstreckte, im Süden von der arabischen,
im Osten von der syrischen Wüste und dem Euphrat begrenzt, im Norden von den
Bergen der Tauruskette.
Dieses Gebiet wurde von Assyrern, Persern, Griechen,
Römern und Byzantinern beherrscht, bevor die Araber es einnahmen und Damaskus
zu ihrer Hauptstadt machten. ..Syrien
ist ein Gebiet, das aus vielen Kulturschichtungen besteht, ein hochverdichteter
Zivilisationsraum, den man, auf Europa übertragen, nur mit Italien vergleichen
kann. Syrisch heißt nicht Flüchtling, es heißt Zivilisation.
Auch der
Apostel Paulus war aus Syrien
Zu diesem Zivilisationsraum gehörten nicht nur Araber
oder Muslime, sondern auch Christen und Juden. Einen modernen Toleranzbegriff
auf die Vergangenheit zu projizieren, ergibt keinen Sinn. Man könnte sagen: Man
hat zusammengelebt und sich arrangiert. Bis zur Gründung des Staates Israel gab
es in jeder syrischen Stadt jüdische Gemeinden, bis zum Beginn des
Syrien-Konflikts 2011 gab es in Aleppo und Damaskus christliche Viertel, die so
groß wie Stadtteile waren.
Auch
wenn die Region vorwiegend islamisch wurde, gehört zum syrischen
Zivilisationsraum nicht nur der Halbmond, sondern auch das Kreuz.
Statistisch gesehen, ist jeder zehnte Syrer
ein Christ. Ohne Syrien ist das Abendland nicht denkbar.
Hätte
der spätere Apostel Paulus (als Saulus und Christenverfolger) nicht sein Bekehrungserlebnis in Damaskus gehabt – an
der biblisch erwähnten «Geraden Strasse», die es heute noch gibt und die immer
noch denselben Namen trägt –, wäre er
nicht aufgebrochen, um den Grundstein für eine neue Weltreligion zu legen.
In Antiochia, bis 1939 eine syrische Stadt,
wurden die Jünger «zum ersten Mal Christen genannt». Syrische Christen sind die
Letzten, die die Sprache Jesu, Aramäisch, noch verstehen. Sie war die
Hochsprache des Nahen Ostens, vor Griechisch und Latein. Syrisch heißt: mit
unserer Zivilisation verwandt.
Auf der Karte sieht man zwei große Städte, Aleppo und
Damaskus, eine Dualität. Handelsstadt, heilige Stadt, ein wenig wie Florenz und
Rom, nur weniger museal. Sie gelten als die beiden ältesten Städte der Welt. Damaskus existierte schon, als Abraham noch
auf der Wanderung war. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebte in diesen
Städten, die zu modernen Metropolen wurden, ohne Tradition und Identität zu
verlieren. Syrien bedeutet also nicht
Dorf, sondern Urbanität – die Idee von Stadt ist dort geboren. Und schaut
man auf die Küstenlinie, die ohne Grenzen sehr lange wäre, sieht man eine Reihe
von Städten, die sich zum Mittelmeer hin öffnen, seit den Phöniziern durch
Handel vernetzt, verbunden mit der Welt. Dann wird aus Syrien die Levante.
Syrisch, levantinisch, das hat einen richtigen Klang.
Von religiös motivierten Spannungen war im
modernen Syrien nicht viel zu spüren, und das war nicht nur Anordnung der
Diktatur, es entsprach einfach der Mentalität. Vor allem für junge Syrer war
das Zusammenleben normaler Teil des Alltags. Christen und Muslimen war die
Religion wichtig, aber kein Grund, nicht zusammen im Café zu sitzen oder
Basketball zu spielen. Und ihre Gruppe war repräsentativ.
Syrien
ist zwar eine sehr alte Zivilisation, aber mit einem sehr jungen Gesicht. Durchschnittsalter
ist 20, das ist schwer vorstellbar im Haus Europa, das immer mehr zum
Altersheim wird, wo man sich vor diesen jungen Männern fürchtet, die
so voller Aggressionen sind. Man muss andere Wörter damit verbinden, damit es
syrisch wird: Energie, Neugier, Lebensfreude und den jugendlichen Mut, ohne
Fahrradhelm durch den Tag zu gehen.
Der Tradition verpflichtet, der Welt
zugewandt, überdurchschnittlich oft urban und jung, das sind Merkmale syrischer
Identität.
Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Menschen, die
den IS gesehen haben, hier bei uns einen Gottesstaat errichten wollen." ......
Rudolph Jula ist Reiseschriftsteller und Filmemacher.
Sein nächstes Buch, «Die syrische Grenze», erscheint 2016 im Salis-Verlag,
Zürich.
http://www.nzz.ch/fluechtlingskrise-ich-bin-ein-syrer-ld.2907