"Bitte betet für uns" - ich höre in der Früh Ö1 "Erfüllte Zeit" - die Journalistin Alexandra Mantler
zitiert eine junge Irakerin, die sie vor einigen Jahren bei einer Reportage kennen gelernt hat. Sie hat seither Kontakt mit ihr auch über facebook - als sie ihr vor wenigen Tagen zum Geburtstag gratulieren will: gibt es keinen Kontakt mehr. Wenig später gibt es doch ein Lebenszeichen. Die junge Frau, Akademikerin, Angehörige der Jesiden, ist bereits mit hunderten Anderen auf der Flucht. Fassungslos, verzweifelt, hilflos."Ich wußte nicht, dass man sich so entrechtet fühlen kann", sagt sie. "Bitte betet für uns" Alexandra Mantler vereinbart ein Interview mit ihr - es kommt nicht mehr dazu, wieder bricht der Kontakt ab.
Wenn die neuesten Meldungen stimmen, sind vorerst zwischen 20.000 und 30.000 Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden auf ihrer Flucht vor den IS Truppen aus dem Sindschar Gebirge gerettet worden. Aber zehntausende harren noch immer im Gebirge aus, wir haben die schrecklichen Bilder aus dem Fernsehen im Kopf. Dazu die grauenhafte Meldung, dass es einen Massenmord an 500 Jeseniden gegeben haben soll. Einige seien in Massengräbern in und um die Stadt Sindschar lebendig begraben worden, sagte Menschenrechtsminister Mohammed Schia al-Sudani der Agentur Reuters. Darunter seien auch Frauen und Kinder gewesen. Etwa 300 Frauen seien zudem verschleppt und versklavt worden. Dies hätten Flüchtlinge berichtet.
Noch vor wenigen Tagen waren die "Jesiden" wohl nur wenigen ein Begriff.
In dem Gebiet um die Stadt Sindschar - das mittlerweile von IS kontrolliert wird - lebten vor der Extremistenoffensive schätzungsweise 500.000 Angehörige der Minderheit. Etwas weiter südlich in der Region Schihan haben die Jesiden ein weiteres großes Siedlungsgebiet, etwa 150.000 leben dort. Noch haben IS-Kämpfer diese Region nicht erobert, doch die Gefahr ist auch nach Beginn der US-Luftangriffe auf Stellungen der Dschihadisten längst nicht gebannt.
Eine jesidische Familie auf der Flucht
vor IS
Foto Reuters Shamil Zumatov
INFOS: http://religion.orf.at/stories/2661539/
„In unserer Geschichte haben wir 72 Massaker erlebt. Wir sind besorgt, dass Sindschar das 73. sein könnte“, sagte der jesidische Abgeordnete Hadschi Ghandur zur „Washington Post“. Denn für IS sind die Jesiden eine Ansammlung von Teufelsanbetern und Ungläubigen. Diese Vorurteile - die von vielen Muslimen und auch von Christen geteilt werden - beruhen großteils darauf, dass die Jesiden ihre Religion vornehmlich im Verborgenen leben und es daher wenige gesicherte Informationen über die Inhalte gibt.
Vor allem im Nordirak heimisch
Die Jesiden sind Kurden und lebten bis zur Machtübernahme durch die Terrorgruppe IS vor allem in der Gegend um die Stadt Mossul und im nahe gelegenen Sindschar-Gebirge. Wegen der Verfolgung unter Saddam Hussein sind viele Anhänger der Religion ins Ausland geflohen. Weltweit soll es nach Schätzungen rund 500.000 bis 800.000 Jesiden geben. Die Gemeinde in Deutschland - die größte in Europa - zählt nach Angaben des Zentralrats der Jesiden rund 60.000 Menschen. In Österreich sollen es rund 1.000 sein.
Jesiden in Deutschland - Demonstration FÜR verfolgte Angehörige im Irak
ostseezeitung.de
Der wichtigste heilige Ort der Religion liegt in Lalisch, einem abgelegenen Tal im Norden des Irak. Dort befindet sich das Grab von Scheich Adi, der im 12. Jahrhundert starb und unter den Jesiden große Verehrung genießt. Jedes Jahr im Herbst kommen Zehntausende Menschen zu einer Wallfahrt in das Tal.
Die Tempelanlage in Lalisch, das höchste Heiligtum der Jesiden
Foto Reuters/Shamil Zhumatov
Der „Engel Pfau“
Scheich Adi gilt im Jesidentum als Inkarnation von Melek Taus, dem „Engel Pfau“, als Pfau wird er auch bildlich dargestellt. Gemäß der jesidischen Mythologie wurde Melek Taus als einer von sieben Engeln von Gott geschaffen und mit der Schöpfung der Erde und von Adam und Eva beauftragt. Allerdings, so heißt es, habe er sich anschließend geweigert, vor Adam niederzuknien. Dafür sei er von Gott mit einer besonderen Position als Mittler zwischen Himmel und Erde beauftragt worden.Die Weigerung, vor dem Menschen zu knien, führte im Lauf der Geschichte zu einer falschen Interpretation der jesidischen Lehren in Islam und Christentum. Denn dort ist die Geschichte vom gefallenen Engel, der sich weigert, vor Adam zu knien, jene der Entstehung des Teufels. Die Jesiden wurden und werden also - zu Unrecht, wie sie immer wieder betonen - als Teufelsanbeter gesehen.
Tatsächlich gibt es im Jesidentum das Böse als eigene Entität überhaupt nicht, sondern nur im freien Willen des Menschen.
Exklusive Gemeinschaft
Zum schlechten Ruf der Jesiden in anderen Religionen dürfte auch die Exklusivität ihrer Gemeinschaft beigetragen haben. Jesiden missionieren nicht, als Jeside kann man nur geboren werden. Auch Eheschließungen mit Andersgläubigen sind nicht möglich - sie kommen einem Austritt aus der Glaubensgemeinschaft gleich. In den vergangenen Jahren wurde in diesem Zusammenhang auch immer wieder über angebliche Ehrenmorde und über die Ächtung von Frauen, die einen andersgläubigen Mann heirateten, berichtet.Die historischen Wurzeln des Jesidentums liegen weitgehend im Dunkeln. Fest steht lediglich, dass die Religion in ihrer heutigen Form wesentlich von Scheich Adi im 12. Jahrhundert geprägt wurde. Gleichzeitig herrscht aber auch Konsens darüber, dass es eine Gemeinschaft mit gleichem oder zumindest ähnlichem Namen schon lange zuvor gab.
Einige Wissenschaftler ziehen etwa Parallelen zum römischen Mithraskult und zum Zoroastrismus, es gibt aber auch deutlichen christliche, muslimische und fernöstliche Einflüsse. Sicher ist, dass das Jesidentum eine streng monotheistische Religion ist. Die sieben Engel und vor allem Melek Taus spielen eine zentrale Rolle. Darüber hinaus glauben die Jesiden aber auch an die Wiedergeburt und leben nach einem strengen Kastensystem.
Zahlreiche Attentate
Der Sturz Saddam Husseins durch die von den USA angeführte Invasion 2003 verbesserte die Situation der Jesiden nicht. Im August 2007 töteten Extremisten zwischen 400 und 700 Menschen bei Attacken auf jesidische Dörfer in Nineveh. Seit dem rasanten Vormarsch von IS befinden sich die Jesiden - neben vielen anderen religiösen Minderheiten - auf der Flucht vor der Terrorgruppe. Viele waren nach der Eroberung von Mossul in Sindschar und anderen von Kurden kontrollierten Städten untergekommen, die nun ebenfalls unter Kontrolle der Islamisten stehen.religion.ORF.at/APA/dpa/AFP