Franz Xaver
Kappus
Schriftsteller u Journalist 1883 -1966
z. Zt.
Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903
"Vor etwa zehn Tagen habe ich Paris verlassen,
recht leidend und müde, und bin in
eine große nördliche Ebene gefahren, deren Weite und Stille und Himmel mich
wieder gesund machen soll. Aber ich fuhr in einen langen Regen hinein, der
heute erst sich ein wenig lichten will über dem unruhig werdenden Land; und
ich benutze diesen ersten Augenblick Helle, um Sie zu grüßen, lieber Herr.
Sehr lieber Herr Kappus: Ich habe einen Brief von Ihnen lange ohne Antwort
gelassen, nicht daß ich ihn vergessen hätte - im Gegenteil: er war von der
Art derer, die man wieder liest, wenn man sie unter den Briefen findet, und
ich erkannte Sie darin wie aus großer Nähe. Es war der Brief vom zweiten Mai,
und Sie erinnern sich seiner gewiß. Wenn ich ihn, wie jetzt, in der großen
Stille dieser Ferne lese, dann rührt mich Ihre schöne Sorge um das Leben,
mehr noch, als ich das schon in Paris empfunden habe, wo alles anders
anklingt und verhallt wegen des übergroßen Lärmes, von dem die Dinge zittern.
Hier, wo ein gewaltiges Land um mich ist, über das von den Meeren her die
Winde gehen, hier fühle ich, daß auf jene Fragen und Gefühle, die in ihren
Tiefen ein eigenes Leben haben, nirgend ein Mensch Ihnen antworten kann; denn
es irren auch die Besten in den Worten, wenn sie Leisestes bedeuten sollen
und fast Unsägliches. Aber ich glaube trotzdem, daß Sie nicht ohne Lösung
bleiben müssen, wenn Sie sich an Dinge halten, die denen ähnlich sind, an
welchen jetzt meine Augen sich erholen. Wenn Sie sich an die Natur halten,
an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so
unversehens zum Großen und Unermeßlichen werden kann; wenn Sie diese Liebe
haben zu dem Geringen und ganz schlicht als ein Dienender das Vertrauen
dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter,
einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstande
vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem innersten Bewußtsein,
Wach-sein und Wissen.
|
|
Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte
Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld
zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie
verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen
nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es
handelt sich darum, alles zu leben. Leben
Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu
merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.
|
Vielleicht tragen Sie ja in sich die Möglichkeit, zu
bilden und zu formen, als eine besonders selige und reine Art des Lebens;
erziehen Sie sich dazu, - aber nehmen Sie das, was kommt, in großem
Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem Willen kommt, aus irgendeiner Not
Ihres Innern, so nehmen Sie es auf sich und hassen Sie nichts. Das
Geschlecht ist schwer; ja. Aber es ist Schweres, was uns aufgetragen wurde,
fast alles Ernste ist schwer, und alles ist ernst. Wenn Sie das nur
erkennen und dazu kommen, aus sich, aus Ihrer
Erfahrung und Kindheit und Kraft heraus ein ganz eigenes (von Konvention
und Kindheit und Sitte nicht beeinflußtes) Verhältnis zu dem Geschlecht zu
erringen, dann müssen Sie nicht mehr fürchten, sich zu verlieren und
unwürdig zu werden Ihres besten Besitzes.
Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das
reine Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge
füllt; sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein
Wissen von der Welt, die Fülle und der Glanz alles Wissens. Und nicht, daß
wir sie empfangen, ist schlecht; schlecht ist, daß fast alle diese
Erfahrung mißbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen
ihres Lebens setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten.
Die Menschen haben ja auch das Essen zu etwas anderem gemacht: Not auf der
einen, Überfluß auf der anderen Seite haben die Klarheit dieses
Bedürfnisses getrübt, und ähnlich trübe sind alle die tiefen, einfachen
Notdürfte geworden, in denen das Leben sich erneuert. Aber der einzelne
kann sie für sich klären und klar leben (und wenn nicht der einzelne, der
zu abhängig ist, so doch der Einsame). Er kann sich erinnern, daß alle
Schönheit in Tieren und Pflanzen eine stille dauernde Form von Liebe und
Sehnsucht ist, und er kann das Tier sehen, wie er die Pflanze sieht,
geduldig und willig sich vereinigend und vermehrend und wachsend nicht aus
physischer Lust, nicht aus physischem Leid, Notwendigkeiten sich neigend,
die größer sind als Lust und Leid und gewaltiger denn Wille und Widerstand.
O daß der Mensch dieses Geheimnis, dessen die Erde voll ist bis in ihre
kleinsten Dinge, demütiger empfinge und ernster trüge, ertrüge und fühlte,
wie schrecklich schwer es ist, statt es leicht zu nehmen. Daß er
ehrfürchtig wäre gegen seine Fruchtbarkeit, die nur eine ist, ob sie geistig oder körperlich scheint; denn auch das
geistige Schaffen stammt von dem physischen her, ist eines Wesens mit ihm
und nur wie eine leisere, entzücktere und ewigere Wiederholung leiblicher
Wollust. «Der Gedanke, Schöpfer zu sein, zu zeugen, zu bilden», ist nichts
ohne seine fortwährende, große Bestätigung und Verwirklichung in der Welt,
nichts ohne die tausendfältige Zustimmung aus Dingen und Tieren, - und sein
Genuß ist nur deshalb so unbeschreiblich schön und reich, weil er voll
ererbter Erinnerungen ist aus Zeugen und Gebären von Millionen. In einem
Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf und erfüllen ihn
mit Hoheit und Höhe. Und die in den Nächten zusammenkommen und verflochten
sind in wiegender Wollust, tun eine ernste Arbeit und sammeln Süßigkeiten
an, Tiefe und Kraft für das Lied irgendeines kommenden Dichters, der
aufstehn wird, um unsägliche Wonnen zu sagen. Und rufen die Zukunft herbei;
und wenn sie auch irren und sich blindlings umfassen, die Zukunft kommt
doch, ein neuer Mensch erhebt sich, und auf dem Grunde des Zufalls, der
hier vollzogen scheint, erwacht das Gesetz, mit dem ein widerstandsfähiger
kräftiger Samen sich durchdrängt zu der Eizelle, die ihm offen
entgegenzieht. Lassen Sie sich nicht beirren durch die Oberfläche; in den
Tiefen wird alles Gesetz. Und die das Geheimnis falsch und schlecht leben
(und es sind sehr viele), verlieren es nur für sich selbst und geben es
doch weiter wie einen verschlossenen Brief, ohne es zu wissen. Und werden
Sie nicht irre an der Vielheit der Namen und an der Kompliziertheit der
Fälle. Vielleicht ist über allem eine große Mutterschaft, als gemeinsame
Sehnsucht. Die Schönheit der Jungfrau, eines Wesens, «das (wie Sie so schön
sagen) noch nichts geleistet hat», ist Mutterschaft, die sich ahnt und
vorbereitet, ängstigt und sehnt. Und der Mutter Schönheit ist dienende
Mutterschaft, und in der Greisin ist eine große Erinnerung. Und auch im
Mann ist Mutterschaft, scheint mir, leibliche und geistige; sein Zeugen ist
auch eine Art Gebären, und Gebären ist es, wenn er schafft aus innerster
Fülle. Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und
die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und
Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als
Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich
zusammentun werden als Menschen,
um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt
ist, gemeinsam zu tragen. Aber alles, was vielleicht einmal vielen möglich
sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten und bauen mit seinen
Händen, die weniger irren.
|
|
|
|
Darum, lieber Herr, lieben Sie Ihre
Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht, mit schön
klingender Klage. Denn die Ihnen nahe sind, sind fern, sagen Sie, und das
zeigt, daß es anfängt, weit um Sie zu werden. Und wenn Ihre Nähe fern ist,
dann ist Ihre Weite schon unter den Sternen und sehr groß; freuen Sie sich
Ihres Wachstums, in das Sie ja niemanden mitnehmen können, und seien Sie
gut gegen die, welche zurückbleiben, und seien Sie sicher und ruhig vor
ihnen und quälen Sie sie nicht mit Ihren Zweifeln und erschrecken Sie sie
nicht mit Ihrer Zuversicht oder Freude, die sie nicht begreifen könnten.
|
Suchen Sie sich mit ihnen irgendeine schlichte und
treue Gemeinsamkeit, die sich nicht notwendig verändern muß, wenn Sie
selbst anders und anders werden; lieben Sie an ihnen das Leben in einer
fremden Form und haben Sie Nachsicht gegen die alternden Menschen, die das
Alleinsein fürchten, zu dem Sie Vertrauen haben. Vermeiden Sie, jenem
Drama, das zwischen Eltern und Kindern immer ausgespannt ist, Stoff
zuzuführen; es verbraucht viel Kraft der Kinder und zehrt die Liebe der
Alten auf, die wirkt und wärmt, auch wenn sie nicht begreift. Verlangen Sie
keinen Rat von ihnen und rechnen Sie mit keinem Verstehen; aber glauben Sie
an eine Liebe, die für Sie aufbewahrt wird wie eine Erbschaft, und
vertrauen Sie, daß in dieser Liebe eine Kraft ist und ein Segen, aus dem
Sie nicht herausgehen müssen, um ganz weit zu gehen!
Es ist gut, daß Sie zunächst in einen Beruf münden, der Sie selbständig
macht und Sie vollkommen auf sich selbst stellt in jedem Sinne. Warten Sie
geduldig ab, ob Ihr innerstes Leben sich beschränkt fühlt durch die Form
dieses Berufes. Ich halte ihn für sehr schwer und für sehr anspruchsvoll,
da er von großen Konventionen belastet ist und einer persönlichen
Auffassung seiner Aufgaben fast keinen Raum läßt. Aber Ihre Einsamkeit wird
Ihnen auch inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und Heimat sein, und aus
ihr heraus werden Sie alle Ihre Wege finden. Alle meine Wünsche sind
bereit, Sie zu begleiten, und mein Vertrauen ist mit Ihnen,
Ihr:
Rainer Maria Rilke
|
|
|
|
|
|
|
|